Elifs Brief an alle
Seit September letzten Jahres besuche ich als türkische Austauschschülerin bei Euch die 10. Klasse. Ich heiße Elif, bin 16 Jahre alt und komme aus Istanbul. Dort besuche ich ein deutsches Gymnasium und werde in zwei Jahren, genau wie meine deutschen Freunde hier, das deutsche Abitur schreiben. Zu Hause habe ich sowohl türkische als auch deutsche Lehrer und die Naturwissenschaften werden auf Deutsch unterrichtet. Für die Zulassung zur deutschen Schule musste ich sehr viel Deutsch lernen und so entstand mein großer Traum, in Deutschland ein Austauschjahr zu machen.
Mit meinen deutschen Lehrern mussten wir viele Sachen über Deutschland und die Unterschiede zwischen unseren beiden Ländern lernen und darüber in den Unterrichten miteinander diskutieren. Aber es ist ein großer Unterschied darüber zu sprechen oder es selbst zu erleben. Mit den Menschen in dem Land zu leben, und mit ihnen die Geschichte und die Kultur des Landes zu lernen, übertrifft jedes Schulbuch und Lernen im Klassenzimmer.
Meine Eltern waren am Anfang mit meinem Wunsch nicht einverstanden und waren überrascht, weil sie nie so was von mir erwartet haben. Ich musste sie überzeugen und obwohl sie Zweifel hatten, haben sie mich doch unterstützt. und ich konnte nach Deutschland kommen, bis jetzt so viel erleben und wunderbare Menschen kennenlernen J
Seit 8 Monaten lebe ich nun bei Euch und mein wunderbares Abenteuer ist schon fast zum Ende gekommen. Klar wusste ich, dass es nicht immer einfach wird. Ich habe am Anfang viele Sachen falsch gemacht, weil ich die Regeln des Alltags nicht wusste, manchmal habe ich geweint, manchmal habe ich so viel gelacht bis die Tränen aus meinen Augen gekommen sind. Manchmal war ich erschöpft, weil ich so viel zu meiner Heimat erklären sollte. Hier habe ich gemerkt, wie viel unsere Länder miteinander zu tun haben, weil es auch immer etwas in den Nachrichten gibt und trotzdem hatte ich das Gefühl, wir wissen oft viel zu wenig übereinander.
Mein Alltag hier war natürlich völlig anders. In der Türkei muss ich über eine Stunde zu meiner Schule pendeln. Dazu reise ich von dem asiatischen Teil in den europäischen Teil Istanbuls und fahre sogar mit der U-Bahn in einem Tunnel unter dem Meer, um den Bosperus zu überqueren. Ich komme aus einer Stadt mit 14 Millionen Einwohnern und durfte nun in eine Kleinstadt mit ca. 50.000 Einwohnern. Hier brauche ich nur 8 Minuten mit dem Stadtbus in die Schule! Das war sehr schön für mich!
Meine Noten hier in Deutschland zählen natürlich auch an meiner Schule in Istanbul. Der Unterricht war dennoch ganz anders. In der Türkei müssen wir viel mehr auswendig lernen und in den Prüfungen wird das Gelernte wieder abgefragt. Hier war ich oft nicht sicher, was von dem Gelernten auf die Frage in der Prüfung passt. In der Türkei haben meine Klassenkameraden nur selten die Gelegenheit etwas gemeinsam zu machen. Wir wohnen zu weit auseinander und neben dem Lernen haben wir an der deutschen Schule keine Zeit. Hier hat es so viel Spaß gemacht, so oft und so viel mit Euch etwas an den Nachmittagen oder am Wochenende zu unternehmen. Das werde ich sehr vermissen.
Manchmal musste ich aus meiner Komfortzone kommen, obwohl es mir oft schwer gefallen ist: ein deutsches Gedicht von Goehte und Schiller allein vor der Klasse vortragen oder auch für eine Note allein vorsingen. Manchmal war es wirklich schwierig mich an einige Sachen zu gewöhnen, was ich vorher nie gemacht habe: mit dem Fahrrad zur Schule oder zum Kickbox Training fahren. Manchmal hatte ich natürlich Probleme mit Bayrisch: „dahoam“ klingt überhaupt nicht wie „zu Hause“. Jetzt kann ich sogar die bayrischen Nachrichten auf WhatsApp verstehen!
Aber ich wusste, dass ich nie aufgeben darf, sondern immer weitermachen muss, damit ich mich verbessern, meine Wahrnehmung verbreitern, immer wieder Neues über mich entdecken und neue Perspektiven zu den unterschiedlichen Situationen haben könnte.
Sehr oft musste jemand mir erklären wie es leichter und richtiger gehen würde. In dem Punkt habe ich wirklich Glück gehabt, weil meine Gastfamilie unendlich Geduld für mich hat und ich mit freundlichen und warmherzigen Menschen befreundet bin, die mir alles erklären und bei allem helfen, ohne sich zu beschweren.
Jetzt habe ich so viele und schöne Momente und Erinnerungen hinter mir: Nussschnecken backen, Semmelknödel oder Reinstriezel essen, „Oma und Opa“ sagen können, einen Weihnachtsbaum schmücken, Eierkämpfe mit meiner kleinen Schwester am Ostersonntag austragen, ein Dirndl anziehen und auf die Dult gehen und einfach eine tolle Zeit mit meiner „zweiten Familie“ zu erleben. Nun freue ich mich darauf, die letzten Wochen in Deutschland zu genießen und wer von Euch Glück hat, erwischt noch etwas von meinem besten Kisir oder kann eine Tasse besten türkischen Kaffee trinken, weil ich den wirklich gut kochen kann (!).
Wenn ich mir für einen Augenblick überlege, was ich bisher erlebt habe, was ich alles über Deutschland und vor allem über mein eigenes Heimatland gelernt habe, bin ich wirklich froh, dass ich mich nicht nur auf mein Land eingegrenzt habe. Ich habe tatsächlich gesehen wie die Menschen, die unterschiedliche Religionen und Meinungen haben und zu den unterschiedlichen Kulturen gehören, sich verstehen und unter einem Dach zusammen leben können. Ich bin dafür unendlich dankbar, was ich mit meiner Familie in Deutschland und bei Euch in der Schule alles erleben und lernen durfte. Dafür bin ich dankbar, weil ich so viel zu erzählen habe, wenn ich wieder in der Türkei mit meiner Familie und meinen Freunden bin…
PS: Manchmal könnt Ihr meine deutsche Schule im Fernsehen sehen. In der Serie „Mordkommission in Istanbul“ ist sie das Polizeirevier. Das habe ich auch erst hier beim Fernsehen mit meiner Familie entdeckt.